§ 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG
Grundsätzlich gilt das Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG individuenbezogen. Allerdings wird es nach § 44 Abs. 5 Nr. 1 BNatSchG dann nicht erfüllt, wenn sich durch den Eingriff oder das Vorhaben – nach Anwendung der gebotenen, fachlich anerkannten Schutzmaßnahmen – das Tötungs- und Verletzungsrisiko für Exemplare der betroffenen Arten nicht signifikant erhöht. Die Bestimmung dieser „signifikanten“ Risikoerhöhung setzt sowohl eine objektive Sachverhaltsermittlung als auch eine wertende Betrachtung voraus. Dazu haben die Fachbehörden der Länder und des Bundes abgestimmte Abstandsempfehlungen erarbeitet, die auf dieser Seite zu finden sind.§ 45b BNatSchG
Mit dem 4. Gesetz zur Änderung des BNatSchG vom 20. Juli 2022 hat der Bundesgesetzgeber in § 45b BNatSchG Neuregelungen zum Betrieb von Windenergieanlagen an Land eingeführt. In Abschnitt 1 der Anlage 1 zu § 45b Abs. 1 - 5 sind auch Abstandsempfehlungen zur Signifikanzprüfung für kollisionsgefährdete Vogelarten zu finden. In Zulassungsverfahren kommen diese für die Bewertung von einzelnen Brutvorkommen zur Anwendung.
Seit Ende der 90er Jahren ist bekannt, dass Vögel durch Kollisionen mit Rotorblättern von Windenergieanlagen (WEA) zu Schaden kommen bzw. tödlich verletzt werden können. 2002 wurde damit begonnen, diese "Schlagopfer" bundesweit in einer zentralen Datensammlung an der Vogelschutzwarte in Brandenburg zu sammeln. Bisher sind dort für Deutschland rund 4.800 und europaweit rund 16.500 Schlagereignisse dokumentiert. Dabei handelt es sich überwiegend um Zufallsfunde. Die Zahl der tatsächlich verunglückten Tiere ist deutlich höher. Zu den am stärksten betroffenen Arten zählen die Greifvögel.
Mit dem voran schreitenden Ausbau der Windenergie stellt das Kollisionsrisiko für den Vogelschutz ein zunehmendes Problem dar. Insbesondere bei seltenen Arten können Verluste an WEA lokale Populationen gefährden. Aber auch unabhängig davon, können die Verluste einzelner Individuen, eine Verwirklichung artschutzrechtlicher Verbotstatbestände nach § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG bedeuten.
Vor diesem Hintergrund hatte die LAG VSW (2007)"Abstandsempfehlungen für Windenergieanlagen zu bedeutsamen Vogellebensräumen sowie Brutplätzen ausgewählter Vogelarten" (Ber. Vogelschutz 44 (2007), 151 - 153; auch als "Helgoländer Papier" bekannt) veröffentlicht. Diese Empfehlungen basieren auf der Annahme, dass Kollisionen vor allem durch eine geeignete Standortwahl vermieden werden können. Dies bedeutet, dass WEA nur in einem ausreichenden Abstand zu den bevorzugten Aufenthaltsorten von Vögeln (z. B. Brutplätzen) bzw. häufig frequentierten Flugkorridoren errichtet werden sollten. Dabei basieren die vorgeschlagenen Abstände auf artspezifischen Telemetriestudien bzw. Beobachtungen zum Flugverhalten unter der Annahme, dass sich mindestens 50 % der Flugaktivitäten außerhalb des Rotorbereichs befinden sollten.2011 hatte die LAG VSW mit einer grundlegenden Überarbeitung der Abstandsempfehlungen (2007) begonnen. Damit war vor allem das Ziel verbunden, neue wissenschaftliche Erkenntnisse, die von der Vogelschutzwarte in Brandenburg fortlaufend in einer Dokumentation zusammengestellt werden, zu berücksichtigen und artspezifisch aufzuarbeiten. Dies führte bei den meisten Arten zur Verringerung der Prüfradien, in denen das Auftreten überdurchschnittlich hohe Flugaktivitäten untersucht werden soll. Bei den artspezifisch empfohlenen Mindestabständen kam es beim Rotmilan zur einer Erhöhung der bisherigen Empfehlung, da neue Untersuchungen einer größere (als bisher angenommene) Raumnutzung vermuten lassen.
2015 wurde die Überarbeitung der Abstandsempfehlungen durch die LAG VSW abgeschlossen. Zuvor wurden die jeweiligen Entwürfe in der LANA beraten und mit Vertretern des Bundesverbandes für Windenergie (BWE) und der Bund-Länderinitiative für Windenergie (BLEW) diskutiert. Abschließend beschäftigte sich die 55. Amtschefkonferenz im Vorfeld der 84. Umweltministerkonferenz mit dem Thema.Abstandempfehlungen LAG VSW (2015): pdf (1.8 MB)
Englische Übersetzung: pdf (0.3 MB
Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass artenschutzrechtliche Konflikte beim Errichten und beim Betrieb von WEA vermieden werden können, wenn die Abstandsempfehlungen eingehalten werden. Zu Sachverhaltsermittlung können die Länder im Rahmen ihrer Zuständigkeit methodische Vorgaben machen. Hierzu hat die LAG VSW bundesweite Vorschläge erarbeitet, die von den Ländern angewendet werden können.
Fachempfehlung für avifaunistische Erfassung und Bewertung LAG VSW 19-2 (2020 barrierefrei): pdf (1.6 MB)
Abschaltung von WEA bei Mahd, Ernte und Bodenbearbeitung
Bodenbearbeitungen (wie zum Beispiel das Pflügen von Äckern) sowie Ernte und Mahd können kurzzeitig zu einer deutlichen
Erhöhung des Nahrungsangebots auf landwirtschaftlich genutzten Flächen führen. Davon profitieren insbesondere Greifvögel und Störche, die
solche Flächen oftmals über große Entfernungen anfliegen. Im Bereich von WEA können derartige Konzentrationseffekte mit bis zu 100 Individuen an
einem Standort zu einer signifikanten Erhöhung des Kollisionsrisikos führen. Die LAG VSW empfiehlt daher, die Anlagen kurzzeitig abzuschalten.
Abschaltung WEA bei Mahd oder Ernte LAG VSW 17-1-1 (2017): pdf (0.2 MB)
Kumulative Effekte
Aus naturschutzfachlicher Sicht haben Kollisionsverluste und Meideverhalten auch Auswirkungen auf das
Vorkommen einzelner Arten, die nicht direkt mit den Verbotstatbeständen des § 44 Abs. 1 BNatSchG in Verbindung
gebracht werden können. Dazu zählen kumulative Effekte inkl. Langzeitfolgen, die aufgrund ihrer Komplexität nur schwer zu
beschreiben sind.
Im Gegensatz zu den Kollisionsverlusten, die vor dem Hintergrund des § 44 Abs. 1 Nr. 1 individuenbezogen zu betrachten sind, sind kumulative Effekten stets auf die Population einer Art gerichtet. Dazu gehören alle Auswirkungen, die nicht im Einzelverfahren geprüft werden können und erst in der Summe unterschiedlicher Umstände (z. B. im Ergebnis der Realisierung anderer Vorhaben) zum Tragen kommen. Dies können zusätzliche Schlagopfer in benachbarten Windparks oder die Kombination mit Verlusten an Freileitungen und Straßen sein. Auch die Verknappung von Nahrungsflächen und Brutplätzen oder der geringere Bruterfolg neu verpaarter Vögel können kumulative Wirkungen entfalten.
Die unabhängige Bearbeitung einzelner Genehmigungsverfahren kann dazu führen, dass sich der Lebensraum für einzelne Arten scheibchenweise verkleinert oder Kollisionsverluste nicht mehr im Rahmen der natürlichen Reproduktion ausgeglichen werden können. Es ist also denkbar, dass sich der Erhaltungszustand der Population einer Art verschlechtert, obwohl alle naturschutzrechtlichen Vorgaben im Genehmigungsverfahren eingehalten werden. Solche Entwicklungen gilt es rechtzeitig zu erkennen. Wirkungsvolle Lösungsansatze lassen sich vor allem auf der vorgelagerten Plaungsebene finden. Hier können eine naturverträgliche Nutzung der Windenergie vorgegeben und großräumig unzerschnitten Landschaftsräume als Rückzugsgebiete für gefährdete Arten festgelegt werden. Darüber hinaus können hier Artenhilfsprogramme den Populationszustand einzelner Arten verbessern.